Karl May in full effect









                                                 
Kara Ben Nemsi:

„Würde ich doch ein Pionier der Civilisation, des Christentums sein [Interessant ist hier die Gleichsetzung
von Zivilisation mit Christentum. E.J.]! Ich würde nicht zurückdrängend oder gar vernichtend unter meine fernen Brüder treten […]; ich würde jede Form der Kultur und auch den kleinsten ihrer Anfänge schätzen“

Im Unterschied zu Ethnologen, die ihre Informationen vor allem in der Feldforschung von den Trägern der von ihm untersuchten Kultur erhält, beziehen Orientalisten ihre Informationen aus Texten. Oder wie Peter Heine es formuliert: Die Realität des Orientalisten sind die Texte (Heine 1989, S. 10) . Verfasser von Kulturkniggen beziehen ihre Informationen ebenfalls aus Texten und sie stellen allgemeine Behauptungen über die Träger der thematisierten Kultur auf. Beides, die Vorrangstellung des Textes auf der einen und die Verallgemeinerungen auf der anderen Seite machen es für mich Plausibel, die Verfasser von Kulturkniggen interkulturelle Orientalisten zu nennen.



Der interkulturelle Karl-May Effekt liegt dann vor, wenn das Sprechen von Interkulturalisten über den Orient in den Kulturkniggen und interkulturellen Trainings im wirtschaftlichen Kontext folgende Merkmale aufweist (aus verständlichen Gründen richten interkulturelle Orientalisten ihr Augenmerk auf den wirtschaftlichen Kontext):


a.) Die andere Kultur wird als das gänzlich Andere darstellt und

b.) die Darstellung unterliegt dabei einer Kulturalisierung, die darin besteht, dem Orient Kulturmerkmale zuzuordnen und diese als kausale Gründe für Denken, Fühlen und Handeln der Akteure zu betrachten.

Wichtig ist dabei, dass die Kulturalisierung am Ende misslingt, sprich: Es gelingt nicht, Denken, Fühlen und Handeln der Akteure auf vermeintliche Kulturmerkmale zurückzuführen. Das Misslingen der Kulturlaisierung zeigt sich daran, dass soziale, wirtschaftliche und politisch-rechtliche Faktoren sowie neuere Entwicklungen in Ländern des Orients schlicht ausgeblendet werden.

Das Sprechen über den Orient weist zwar fundierte Kenntnisse auf, diese Kenntnisse werden jedoch eher über Sekundärquellen angeeignet und mit viel Fleiß zusammen getragen. Eigene empirische Arbeiten liegen in der Regel nicht vor (bei Karl May: Keine Reisen!). Des Weiteren: Das Sprechen der interkulturellen Orientalisten über den Orient zeugt von einem phantasievollen Umgehen mit Konzepten bzw. Ansätzen von Ethnologen, interkulturellen Psychologen, Forscher des interkulturellen Managements etc. (Die Gründe dafür im Falle der Romane Karl Mays sind natürlich bei dem Autor und dessen literarischen und sonstigen Ambitionen zu suchen. Bei den interkulturellen Orientalisten liegen die Gründe u.a. in der Profession selbst).

Das Sprechen über den Orient birgt in sich ein missionarisches Überlegenheitsdenken, auch wenn darin eine Sympathisierung mit dem Orient zum Ausdruck kommt. Dies führt zu einer Ambivalenz in den Texten, die sich in Anlehnung an Heitmeyers Begriff der bedrängten Toleranz mit bedrängtem Respekt beschreiben lässt.

Die dem nun genehmigten Forschungsprojekt zugrundeliegende These lautet: Die Konstruktionen kultureller Differenz der interkulturellen Orientalisten sind von dem Karl-May Effekt durchzogen. Es sollen im Laufe eines Jahres zahlreiche Kulturkniggen und Lernsoftware-Pakete analysiert und Vorschläge erarbeitet werden, wie Lehr- und Lernmaterialien erstellt werden können, ohne dem Karl-May Effekt zu erliegen.